Zwischen Ratten und Ruinen?

Nicht einmal eine Woche ist vergangen, seit Präsident Trump auf Twitter zum großen verbalen Angriff gegen Rep. Elijah Cummings (D-MD) blies. Den Äußerungen, welchen zufolge Baltimore ein “widerliches, von Ratten und Nagetieren befallenes Chaos” sei, ging eine Attacke Cummings’ auf den Präsidenten voraus – meint dieser zumindest. Und so schien Trumps Aussage denn eher eine Reaktion auf Cummings’ Äußerungen hinsichtlich der ihm zufolge unmenschlichen Situation an der Grenze gewesen zu sein als eine, wie Speaker of the House Nancy Pelosi (D-CA) zu wissen meinte, rassistisch motivierte Attacke. Während die Wogen immer höher scheinen, steht die Frage im Raum: Wie sieht es denn tatsächlich in Baltimore aus?

Baltimore, a Drug-infested Area?

Um die Situation der einst stolzen Stadt Baltimore besser verstehen zu können, eignet sich ein Blick in die Vergangenheit – genauer gesagt, zwanzig Jahre zurück. Schon kurz vor der Jahrtausendwende sah Baltimore sich dem Wegzug von mehr als 120.000 Menschen binnen eines Jahrzehnts ausgesetzt – und einer ähnlich hohen Kriminalitätsrate wie heute. Kurz gesagt: Die Stadt benötigte dringend neue Impulse, welche der 1999 zum Bürgermeister gewählte Martin O’Malley – später Gouverneur von Maryland – liefern wollte. In den Worten von Rep. Elijah Cummings ausgedrückt:

Tatsächlich waren die schon 1999 unzumutbaren Lebensumstände eines großen Teils der Stadtbevölkerung lediglich ein Zwischenhalt auf einer Strecke des Verfalls, der schon in den späten 1960er-Jahren seinen Anfang nahm. Unter Führung von William Donald Schaefer, dem Bürgermeister Baltimores zwischen 1972 und 1987, traten steigende Korruption und Misserfolge hinter medialen Feuerwerken zurück. Und so hat sich in Baltimore zwischen 1972 und 2008 das Pro-Kopf-Realeinkommen um 75% verringertseitdem stagniert es. Aber wenigstens hat Baltimore ein großes Aquarium. Und ein Konferenzzentrum. Für die wenigen Unternehmen, die der Stadt die Treue halten.

Die Veruntreuung öffentlicher Gelder hat in Baltimore zudem Tradition – das Bethesda Magazine stellt in einem einzigen Artikel etwa ein Dutzend nachgewiesener Korruptionsfälle in Baltimore dar. In einer solchen Atmosphäre wirkt es alles andere als verwunderlich, dass 32% aller Bewohner Marylands Korruption als ein vorhandenes Problem empfinden, während es in Baltimore selbst 57% sind. Ganze 59% der Bewohner Baltimores meinen zudem, dass ihre Stadt von Korruption geplagt sei.

Kein Mangel an Mitteln

Auf den ersten Blick könnte man nun davon ausgehen, dass Baltimore einfach die Geldmittel fehlen, um Änderungsprozesse anzustoßen. Doch weit gefehlt: Glaubt man einer regional Zuständigen des Department of Housing and Urban Development, hätte „Charm City“ allein im vergangenen Jahr 16 Milliarden US-Dollar aus Bundesmitteln erhalten. Das kann man nun glauben oder nicht – fest steht, dass seit 2017 14,7 Milliarden US-Dollar an Direktzahlungen und anderen bewilligten Bundesmitteln allein nach Baltimore flossen. Hinzu kommen Umverteilungsmaßnahmen auf bundesstaatlicher Ebene, die etwa 1,4 Milliarden US-Dollar jährlich in die Stadtkasse fließen lassen.

Da erscheint es fraglich, wie etwa die New York Times davon spricht, dass die Stadt regelrecht ausgehungert würde durch die Bundesregierung. Aus journalistischer Sicht hätte die Stadt etwa neue Schulgebäude nötig. Zugleich werden in Baltimore 15.168 US-Dollar jährlich pro Schüler ausgegeben, während die Ausgaben im Schnitt der Vereinigten Staaten lediglich 11.734 US-Dollar betragen. Pro Kopf erreicht Baltimore unter den großen Schulbezirken damit den fünften Platz.

Pro-Kopf-Ausgaben je Schüler in den größten Schulbezirken der USA. Ganz vorne dabei: Baltimore, Maryland (Bildquelle: U.S. Census Bureau).

In einer anderen Kategorie schafft Baltimore es sogar auf den ersten Platz – es handelt sich dabei um die Pro-Kopf-Verwaltungsausgaben je Schüler. Jeder Dollar, der hierfür ausgegeben wird, ist ein Dollar, der nicht im Klassenzimmer landet. Und während Städte wie New York und Miami 615 bzw. 498 US-Dollar je Schüler und Schuljahr an Verwaltungskosten aufwenden, sind es in Baltimore 1.630 US-Dollar. Es mangelt also nicht am Geld, sondern an der wirksamen Verteilung desselben. Eine Situation, die sich nicht nur im örtlichen Bildungssystem, sondern auch bei der Polizei niederschlägt.

Bodymore, Murderland

Denn während die Beschäftigten- und Bevölkerungszahl rapide sank, stieg die Kriminalität umso stärker an. Denn während Städte wie New York City eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Drogenhandel verfolgten und Programme wie CompStat verwendeten, um die zur Verfügung stehenden Polizeieinheiten besser einsetzen zu können, sah man in Baltimore mehr oder weniger bewusst weg. Und so hatte Baltimore zum Ende des Jahrtausends eine sechsmal so hohe Rate an Tötungsdelikten wie New York City. Der von Bewohnern der Stadt selbst gewählte Beiname Bodymore, Murderland kam nicht ganz unberechtigt auf. Oder war es Bulletmore? Baltimorgue?

Verlassene Hinterhöfe in Baltimore (Bildquelle: gemeinfrei).

Mehr als 300 Tötungsdelikte jährlich, von denen etwa drei Viertel mit dem Handel mit Rauschgift in Verbindung standen – wenig verwunderlich bei einer Zahl von etwa 60.000 Drogenabhängigen, die auch der Abwanderung von mehr als 300.000 Menschen seit 1970 trotzte. Und die Reaktion darauf? Ganze 23 Polizisten, die mit der Aufklärung von Drogenkriminalität beauftragt wurden, und vier Polizisten, die 54.000 Haftbefehle vollstrecken sollten, 250 davon wegen Mordes oder versuchten Mordes.

Kein Wunder, dass Martin O’Malley mit dem Ruf nach law and order die Bürgermeisterwahlen 1999 für sich entscheiden konnte. In den ersten Jahren seiner Amtszeit gelang ihm dabei auch ein mehr oder weniger starker Schlag gegen das Verbrechen – der aber teils auf fragwürdigen Polizeitaktiken fußte, bei welchen etwa hunderte Menschen täglich präventiv inhaftiert wurden.

Schadenfreude und Schweigen

Eine Stadt gefangen in einer jahrzehntelangen Abwärtsspirale, nur unterbrochen von einer kurzen Periode relativer Besserung – eigentlich sind beide Geschichten dieser Stadt erzählenswert. Schließlich ist die Schieflage der Stadt nicht lediglich eine Erzählung voller Niederlagen, sondern zeigt auch Gelegenheiten auf, wie die Lage sich bessern kann – oder wie andere Städte und deren handelnde Personen sich davor hüten, eine Situation wie in Baltimore heraufzubeschwören, an deren Ende Stadtviertel ohne jeglichen Einzelhandel existieren.

Grund für das geringe mediale Interesse jenseits beider Extrempositionen dürfte nicht zuletzt die gefühlte Ewigkeit sein, seit welcher sich besagte Abwärtsspirale fortsetzt. Zudem – um es mit Rep. Cummings zu halten – ist Baltimore mit nur knapp 60 km Abstand nach Washington weder weit genug von Washington entfernt, um von außen nicht als Teil des swamp zu wirken, noch nahe genug an der Hauptstadt, um auch die anderen 434 stimmberechtigten Abgeordneten im Repräsentantenhaus zu einem Blick auf die eklatanten Probleme zu zwingen. Wer meint, Baltimore „läge doch nebenan“, ist noch nicht am Flughafen Baltimore-Washington International (BWI) gewesen, der so nahe an Washington liegt wie der Flughafen Weeze an Düsseldorf. Und sich zugleich Welten entfernt anfühlt.

So scheint Baltimore dazu verdammt, lediglich in konservativen Internetquellen, Talk-Radios und Podcasts regelmäßige Erwähnung zu finden. Aus republikanischer Sicht stellen die unbestreitbare Misswirtschaft gepaart mit einer der höchsten Mordraten in den Vereinigten Staaten ein großartiges Fallbeispiel dar, welches es zu vermeiden gilt. Eine gewisse Schadenfreude lässt sich nicht abstreiten.

Aus progressiv-sozialistischer Sicht findet Baltimore vergleichsweise wenig Erwähnung – kein Wunder, denn für Sen. Bernie Sanders (I-VT) etwa sieht West Baltimore aus wie ein Land der Dritten Welt. Und damit scheint er nicht gänzlich falsch zu liegen.

Ein Straßenzug in West Baltimore (Bildquelle: Voice of America / Carolyn Presutti

Nicht jede Kritik ist rassistisch

Und hier scheinen wir wieder am Ausgangspunkt der Diskussion angekommen zu sein: Ist jede Kritik an kritikwürdigen Sachverhalten rassistisch motiviert? Es ist einfach, dem US-Präsidenten eine solche Sichtweise zu unterstellen, da die mannigfaltigen Probleme Baltimores dadurch zunächst in den Hintergrund treten. Doch gleichzeitig werden die Probleme damit kleiner gemacht als sie sind – zum Leidwesen der von Ratten und einem schlechten Ruf geplagten Stadtbewohner.

Die Lage in Baltimore kann sich nur bessern, wenn darüber offen gesprochen werden kann. Und dazu gehört auch, festzustellen, dass jahrzehntelange Misswirtschaft, Korruption und das augenscheinlich fehlerhafte Zuweisen von Geldmitteln ihre Spuren in einer einstmals stolzen Stadt hinterlassen. Von „Charm City“ ist wenig übrig, und doch weist Baltimore alle Aspekte einer Stadt mit viel Potential auf. Wer das nicht glaubt, dem sei ein Blick in den Hafen und die hafennahen Stadtteile empfohlen, die jetzt noch eine Anomalie darzustellen scheinen – die aber gleichzeitig das Zeug dazu haben, richtungsweisend zu wirken.

Schon einmal ging der Versuch schief, eine gesonderte Zone für Stadtentwicklung zu schaffen. Und oft genug sind die Granden der Stadtpolitik unter Korruptionsvorwürfen zum Rücktritt gezwungen worden – zuletzt im April, als Bürgermeisterin Catherine Pugh die Veruntreuung von mehr als einer halben Million US-Dollar aus dem Budget der Krankenhäuser des Bundesstaats nachgewiesen werden konnte.

Baltimore hätte das Zeug zu einer Vorzeigegroßstadt – doch dafür braucht es Anstrengungen aus Washington, dem Bundesstaat und insbesondere auch der Stadt selbst. Letztere könnte auch die hohen Grundsteuern (die höchsten in Maryland) und den hohen Hebesatz auf die Einkommensteuer (mit 3,2% ebenso mit die höchste in Maryland) in Angriff nehmen. Oder die Schulen, von denen es in einem Drittel keinen einzigen Schüler gibt, der bei zentralisierten Tests auch nur ausreichend abschneidet.

In weniger als drei Jahren hatte der Präsident schlichtweg nicht genügend Zeit, um die Lage in Baltimore zu verbessern – dasselbe gelang Rep. Cummings auch in 23 Jahren im Kongress nicht. Bei aller Kritik an der Wortwahl von Präsident Trump ist es doch ein Hoffnungsschimmer, dass die Lage der Stadt und ihrer Bevölkerung endlich zum Diskussionsthema in den Vereinigten Staatenund auch in Europa – geworden ist.


Titelbild: Rep. Elijah Cummings, Supreme Court news conference to call for the reversal of President Trump’s travel ban on refugees and immigrants from several Middle East countries. Photograph by Eli Pousson, 2016 April 6. CC 2.0.

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