Lasst Sigmar arbeiten!

Am 26. Juni wurde Ex-Außenminister Sigmar Gabriel auf der Mitgliederversammlung der Atlantik-Brücke in Berlin zum neuen Vorsitzenden gewählt. Er folgt damit auf Friedrich Merz, der zehn Jahre lang Vorsitzender war.

Lange schon vor der Wahl, just als die Personalie an die Öffentlichkeit gelangte kamen die ersten Zweifel an der Tauglichkeit Gabriels auf. Der Tagesspiegel etwa schrieb, dass die Empfehlung auch deshalb überraschend käme, „da Gabriel als Außenminister vor allem durch Initiativen für ein besseres Verhältnis zu Russland für Kontroversen gesorgt hatte – und nicht etwa durch Bemühungen um ein enges Verhältnis zu den USA.“

Auch innerhalb des politischen Berlins gab es den ein oder anderen entsetzten Blick. Und viele Leute, die lieber jemand anderes als Gesicht der Brücke gesehen hätten. Und ja – auch unter den Jungen Transatlantikern waren nicht wenige überrascht. Doch auch für ein politisches Schwergewicht wie Sigmar Gabriel muss gelten, was für alle anderen gilt: Amtszeiten beurteilt man erst, wenn sie vorüber sind. Don’t judge a book by its cover.

Anstatt sich vorschnell festzulegen, sollte man auch hier die bewährte 100-Tage Frist anwenden. Lasst Sigmar arbeiten. Es gibt viele Gründe, warum Gabriel mehr Erfolg haben könnte, als erwartet.

Sigmar Gabriel ist ein politisches Schwergewicht

Sigmar Gabriel ist bekanntermaßen ein „Political Animal“. Die Liste seiner politischen Ämter umfasst eine spannende wie auch umfangreiche Liste: Niedersächsischer Ministerpräsident, Bundesumweltminister, Bundeswirtschaftsminister, Außenminister und SPD-Vorsitzender. Letzteres war er acht Jahre und weißt damit die drittlängste Amtszeit nach 1945 auf. Gabriel kann schwierige Ämter. Zudem ist er der erste ehemalige Außenminister, der die Atlantik-Brücke leitet. Kein anderer bisheriger Vorsitzender konnte solch eine (außen-)politische Expertise bei Amtsantritt vorweisen. Mangelndes Fachwissen aus seiner vorherigen Tätigkeit kann man ihm nicht vorwerfen.
Ganz im Gegenteil. Eine schlechte Wahl ist er für viele aber auch nicht, weil er keine Erfahrung vorzuweisen hätte. Vielmehr sind für viele exakt diese Erfahrungen das Problem.

Der Tagesspiegel argumentiert, dass Gabriel mindestens eine ungewöhnliche Wahl ist: Als Außenminister habe er sich für eine Entspannung des Verhältnisses zu Russland eingesetzt und nicht für die Beziehungen zu den USA. So warf Gabriel der Ukraine während der Blockade des Asowschen Meeres durch Russland vor, Deutschland und Europa mit in einen Krieg führen zu wollen. Während der Münchener Sicherheitskonferenz 2018 brüskierte Gabriel die politischen Partner mit seiner öffentlichen Aufforderung, die Sanktionen gegen Russland ohne Gegenleistung schrittweise abzubauen. Garniert war dieses Statement damals mit der Aussage, dass Gabriel wisse, dass die „offizielle Position“ eine andere sei.

Der Punkt zu Russland mag sicherlich in Teilen stimmen. Auch ich finde, dass man Russland aufgrund der Menschenrechtslage, dem Umgang mit Minderheiten, der Annexion der Krim, des mutmaßlichen Abschusses von MH17 und der Syrien-Politik kritisieren muss und auch bei weitem kein so enges Verhältnis, wie zu anderen Staaten wie z.B. Frankreich, Großbritannien oder den USA pflegen sollte. Trotzdem muss man Gabriels Ausführungen im Lichte der damaligen Situation betrachten – und etwas genauer hinsehen.

Sigmar Gabriel war lange vor seiner Zeit im Auswärtigen Amt Bundeswirtschaftsminister gewesen und damit direkt mit den – zugegebenermaßen unstrittigen – massiven wirtschaftlichen Folgen der Sanktionspolitik für die deutsche Industrie betraut. Zum anderen war er zu dem damaligen Zeitpunkt schon ein „Dead Man Walking“ im Amt. Es war klar, dass er nicht weiter Außenminister bleiben würde. Aus einer Strategie der politischen Kommunikation betrachtet, konnte er sich so weiter profilieren. Ähnlich wie bereits davor im Fall Deniz Yücel. 

Gabriel ist kein erfahrungsresistenter Putin-Fanboy

Im Gegensatz zu Gerhard Schröder ist Gabriel aber kein blinder Verteidiger Putins und Russlands. Er hat verstanden, dass Deutschland als Exportnation auch einen großen potentiellen Absatzmarkt in Russland hat. Da spielt neben seiner Rolle als ehemaliger Wirtschaftsminister auch seine Sozialisation innerhalb der SPD eine entscheidende Rolle. Dementsprechend schätze ich seine Position zu den USA deutlich positiver ein, als so manch‘ anderer Beobachter.

Kaum war Sigmar Gabriel 2017 in das Amt des Bundesaußenministers gewechselt, flog er nach Washington um seinen ebenfalls neuen (damaligen) Amtskollegen Rex Tillerson zu treffen und über die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu sprechen. Sicherlich hat Sigmar Gabriel – wie so viele Deutsche und Europäer – ein Problem mit dem Stil der aktuellen US-amerikanischen Administration und hat dies auch mehrfach klar zum Ausdruck gebracht. Doch hat Gabriel auch ein Dilemma der aktuellen internationalen Politik erkannt: Sollten sich die USA aus der internationalen Politik in großen Teilen zurückziehen, entsteht eine Leerstelle im internationalen System, die jemand anderes füllen wird. Das wird zwangsläufig China sein. Deswegen warb er schon seit seiner Zeit als Außenminister dafür, die Kontakte zu den Vereinigten Staaten nicht gänzlich abzubrechen und auf verschiedenen Ebenen weiter miteinander zu kooperieren.
Trotz aller (berechtigten) Kritik von beiden Seiten des Atlantiks am jeweils anderen Partner.

Sein exzentrisches Auftreten brachte ihm viel Kritik ein

Dass Sigmar Gabriel klare und deutliche Worte spricht und durchaus häufig kantig auftritt, ist allgemein bekannt. Sicherlich ist ihm nicht jeder seiner Sprüche zum Vorteil gereicht. Martin Schulz, der „Mann mit den Haaren im Gesicht“,  weiß das wohl am Besten. Vermutlich hat diese Aussage Gabriel ein weiteres Regierungsamt gekostet.
Und doch könnte seine spezielle Art zu einem wichtigen Asset werden. Diese und viele weitere Episoden zeigen nämlich auch, dass Gabriel geschickt zuspitzen und formulieren kann, um öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. In Zeiten, in denen sich die deutsche Medienöffentlichkeit oft verstört und irritiert von den USA abwendet, kann jemand der versteht, wie man in der aktuellen Medienlandschaft Themen setzt und sich Gehör verschafft, für die transatlantischen Beziehungen von Vorteil sein.

Auch in Deutschland müssen wir wieder intensiv darüber diskutiert, wie eine vernünftige Beziehung zu den USA hergestellt werden kann. Das schlichte Abwarten des politischen Betriebs auf die Wahlen im nächsten Jahr und das alleinige Hoffen auf eine Abwahl Donald Trumps sind für die transatlantischen Beziehungen wahrscheinlich der nachhaltigste Schaden, den es zumindest in diesem Jahrzehnt gegeben hat. Es spricht gegen die außenpolitische Medienberichterstattung und Polit-Szene in Berlin, dass nun intensiver über die Idee von Trump diskutiert wird, Grönland zu kaufen als über einen deutschen Einsatz an der Straße von Hormus. Solch eine notwendige Debatte könnte Gabriel sicherlich anstoßen – wenn er nur will. Bisher ist er dort aus meiner Sicht leider auch zu still gewesen.

Gabriel könnte die Atlantik-Brücke aus der Bubble herausholen

Friedrich Merz hat als Vorsitzender der Atlantik-Brücke tolle Arbeit geleistet. Trotzdem hat es der Institution „Atlantik-Brücke“ auch mit Hinblick auf ihre Reputation nicht gut getan, vor allem innerhalb einer geschlossenen Community zu agieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Institution „Atlantik-Brücke“ unter dem Vorsitzenden Gabriel sich öffnet. Es wäre bitter notwendig und zeitgemäß.

Apropos zeitgemäßer: Aus meiner Sicht sollte Sigmar Gabriel gar nicht im Mittelpunkt der Diskussion um die Neuaufstellung der Atlantik-Brücke sein. Denn neben Gabriel wurden noch Norbert Röttgen (CDU; Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages) und Michael Hüther (Direktor des Institutes der deutschen Wirtschaft) als neue stellvertretende Vorsitzende des Vereins gewählt. Richtig erkannt. Ein rein männliches Dreigestirn. In der vorherigen Amtsperiode gab es in dieser Gruppe mit Edelgard Buhlmann zumindest eine Frau. Dass man in einem Verein von über 500 Mitgliedern, die zweifelsfrei alle sehr intelligent und talentiert sind, keine geeignete Nachfolgerin zu finden scheint, ist der eigentlich diskutable Punkt.

Let’s face it: Sigmar Gabriel ist eine Chance für die Atlantik-Brücke. Als neuer Vorsitzender könnte er in der Diskussion um die transatlantischen Beziehungen neue, öffentlichkeitswirksame Impulse setzen, um breit in der Gesellschaft neue Debatten führen zu können. Das wäre ein großer Fortschritt zur aktuellen Situation.
Wenn alte Dinge nicht mehr funktionieren, muss man eben neues wagen. Die Wahl Sigmar Gabriels zum Vorsitzenden ist mutig und riskant – aber bitter notwendig.


Robin Arens ist Vorstandsmitglied der Jungen Transatlantiker und leitet das Kanada-Department.

Titelbild: Der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel auf Staatsbesuch in Estland. CC 2.0. Flickr.

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Pingback: Auf Crashkurs

Kommentar verfassen