„Corona könnte alles ändern“

Der Journalist Helmut Brandstätter kennt die Vereinigten Staaten von Amerika wie seine eigene Westentasche. Als Auslandsredakteur für den Österreichischen Rundfunk berichtete er über viele Jahre hinweg aus Asien, Europa und den USA. Heute beschäftigt er sich als österreichischer Nationalratsabgeordneter vor allem mit Außenpolitik und Forschung. Mit ihm haben wir über Donald Trumps Corona-Krisenmanagement und Joe Bidens letzte Chance auf das Präsidentenamt gesprochen. 

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USA-Kenner Helmut Brandstätter im Interview.


Transatlantic Takes:
Du schreibst aktuell an einem Buch über – so viel darf verraten werden – Donald Trump als „Weckruf für Europa“. Wo siehst du die aktuellen Herausforderungen für das transatlantische Verhältnis?

Helmut Brandstätter: Ohne jeden Zweifel haben die Vereinigten Staaten von Amerika seit jeher eine kaum zu überschätzende Rolle für Europa gespielt: Wirtschaftlich durch den Marshall-Plan, militärisch durch den Nordatlantik-Pakt, psychologisch durch ihre Verkörperung von Freiheit, Liberalismus und Demokratie. Donald Trump hat viele dieser nur scheinbar unumkehrbaren Wertvorstellungen ins Gegenteil verkehrt: Wirtschaftlich gesehen betreibt er immer mehr eine robuste Abschottungspolitik, militärisch gesehen ist sein Interesse am europäischen Teil der Welt enorm zurückgegangen und auch psychologisch steht die USA unter Trump heute mehr denn je für einen Hang zum Autoritarismus, den man leider weltweit beobachten kann. Deshalb war Trump ein Weckruf für Europa, der uns Europäern klarmachen muss: Nur wir selbst können uns retten. Europa muss sein Schicksal endlich in die eigene Hand nehmen.

TT: Heute morgen habe ich gelesen, dass die USA nun die meisten bestätigten Fälle von Corona-Identifizierten haben. In einer sagenhaften Geschwindigkeit haben die Amerikaner nun China überholt. Inwiefern ist die Corona-Krise ein Weckruf für Donald Trump?

HB: Bei Trump weiß man nie, ob er unverfroren lügt, ob er einfach komplett uninformiert ist, oder ob er einfach uninteressiert darin ist, sich zu informieren. Oder eben alles drei. Sein gesamtes Krisenmanagement war von Tag 1 – sogar für seine Verhältnisse – komplett unterirdisch. Am 22. Januar wurde er zum ersten Mal befragt, wie er denn die Gefahr des Corona-Virus einschätze. Ich kann mich noch genau erinnern, als er sagte: “It’s one person coming in from China, and we have it under control. It’s going to be just fine.“ Neun Tage später dann das Einreiseverbot für ausländische Staatsbürger. Am 27. Februar macht er dann die „Open-Border-Policies“ der Demokraten für die Ausbreitung des Virus verantwortlich. Am 28. Februar dann die übliche Medienschelte gegen CNN, dem er unterstellt, eine nationale Panik auslösen zu wollen. Am 8. März sind dann erneut die Medien schuld. Am 9. März vergleicht er Corona mit der Schweinegrippe und kündigt an, dass es keine wirtschaftlichen und politischen Einschränkungen geben werde. Am Tag darauf behauptete er klar faktenwidrig, dass jeder US-Amerikaner einen Gesundheitstest haben könne, der einen brauche. Am 13. März dann wieder der Verweis auf Grenzschließungen als Allheilmittel. Vor fast zwei Wochen verkündet er dann die Corona-Richtlinien, demnach Gruppenversammlungen von mehr als zehn Personen zu unterlassen wären. Nicht zu vergessen der Mindestabstand. Und dann hält er eine Pressekonferenz ab, auf der er von 15 Menschen umringt – dicht gedrängt – ein Gesetz unterschreibt. Und veröffentlicht das Foto auf Twitter. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat über Wochen hinweg in einer existentiellen Phase für die Bürger seines Staates entweder die Lage völlig falsch eingeschätzt oder sein Volk wissentlich belogen.

TT: Stand heute hat die USA über 105.000 Infizierte und über 1.700 Todesfälle. Droht das US-amerikanische Gesundheitssystem zu kollabieren?

HB: Nach meinem Studium in Wien habe ich an der John-Hopkins-Universität in Bologna studiert und für eine lange Zeit als Reiseleiter in den USA gearbeitet und dabei das Gesundheitssystem hautnah kennengelernt. Die USA sind nach wie vor dem Ideal der Pioniergesellschaft verhaftet: Jeder ist seines Glückes Schmied und persönliches Glück hängt alleine davon ab, was jeder einzelne dazu beiträgt. Wir Europäer hingegen sind eher etatistisch geprägt und appellieren zuvorderst an den Staat, der uns Sicherheit gewährleisten soll. Vereinfacht gesprochen ist es völlig egal, ob du einen eingewachsenen Fußnagel oder einen Herzinfarkt hast: In Europa kommst du damit problemlos auf die Intensivstation. In den USA hingegen hat man eine völlig andere Vorstellung vom Leben und präferiert Freiheit vor Sicherheit. Das weiß auch Donald Trumps Herausforderer Bernie Sanders, der versucht, mit seiner Forderung nach universal healthcare zu punkten: Ein im Kern europäisch-sozialdemokratisches Programm, mit dem sich allerdings immer noch viele US-Amerikaner schwer tun.

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Der Nationalratsabgeordnete Helmut Brandstätter im Gespräch.

TT: Wie man momentan beobachten kann, tendieren Menschen in Krisenzeiten dazu, eher Stabilitätsankern gegenüber Aufwieglern ihr Vertrauen zu schenken. So konnte die CDU in Deutschland zuletzt stark zulegen, während der österreichische Bundeskanzler in Österreich Sebastian Kurz unangefochtener Sympathieträger ist. Auf die USA übertragen: Schlägt nun die Stunde von Joe Biden?

HB: Ich glaube nicht mehr an einen Bernie Sanders als demokratischen Kandidaten, sondern rechne fest mit Joe Biden. Entscheidend wird sein, ob Donald Trump die Schuld am Ausbrechen des Corona-Virus auf externe Faktoren lenken kann, oder ob er zur Rechenschaft gezogen werden wird. Vor der Krise war die Arbeitslosigkeit in den USA vergleichsweise gering; klassische Wirtschaftszahlen waren sehr gut. Das ist natürlich passé. Wenig überraschend geht Trump nun auf demokratische Senatoren los, welche für die schlechte medizinische Ausstattung verantwortlich sein sollen. Ob diese Strategie aufgeht wird mehr oder weniger wahlentscheidend sein. Wenn Joe Biden es schafft, dieser Stabilitätsanker zu sein, den sich viele Menschen zurecht in Krisenzeiten wünschen, bekommt er noch eine letzte Chance auf das Präsidentenamt.

TT: Nehmen wir an, Joe Biden kann die Wahlen im November für sich entscheiden: Was würde das für die Beziehungen zu Europa bedeuten?

HB: Viele Dinge, die Trump in den Wahlkampfduellen mit Hillary Clinton angesprochen hat, waren weder neu, noch sonderlich falsch. Aus einem militärischen Standpunkt gesehen ist der Beitrag, den die europäischen NATO-Staaten für ihre Sicherheit leisten, zu gering. Gleichzeitig müssen wir diskutieren, ob die NATO noch richtig organisiert ist: Geben wir vielleicht zu viel Geld für Panzer und zu wenig Geld für Cybersicherheit aus? 2008 habe ich Weihnachten in Florida verbracht und habe mich mit allem Möglichen eingedeckt: von amerikanischen Donuts bis zum Plastikchristbaum made in China. Trump hat mit Blick auf die Handelspolitik immer gesagt, dass man die USA fürchterlich unfair behandelt hätte. Was ich nie verstanden habe: Wieso sollen die Chinesen daran schuld sein, dass US-Amerikaner in China produzierte Plastikbäume kaufen? Sollen sie den Kram eben selbst herstellen. Ohne Zweifel sind die US-Amerikaner in der Raumfahrt und in der Rüstungsindustrie überlegen. Der verstorbene Chrysler-Chef Lee Lacocca sagte einmal, dass Europäer mehr amerikanische Autos kaufen sollten. Weißt du, wieso ich kein amerikanisches Auto fahre? Weil europäische Autos besser sind. Das weiß man auch in den USA, wo in Deutschland produzierte Autos geradezu ein Fetisch sind. Was ein Joe Biden außenpolitisch für Europa bedeuten könnte, ist schwer zu beurteilen. Historisch gesehen waren die Demokraten oftmals sehr viel isolationistischer als die Republikaner. Biden wird vermutlich versuchen, die Wogen mit den Europäern wieder etwas zu glätten. Ganz gleich, wer gewinnt: Wir Europäer müssen unser eigenes Ding machen, wenn wir nicht in jeder Hinsicht von China abhängig sein wollen.

TT: Stichwort China: Wie beurteilst du das chinesische Krisenmanagement mit Blick auf Europa?

HB: Jedes Mal, wenn ich in China zu Besuch war, konnte ich nur darüber staunen, was da in relativ kurzer Zeit gewachsen ist. Ich erinnere mich noch gut, als es außerhalb von Peking noch kaum Wohlstand gab – heute ist in China mit einer Geschwindigkeit und Konsequenz Wohlstand angehäuft worden, dass es einem die Spucke weg bleibt. Eine Sache hat mich jedoch stets nachdenklich gestimmt: Man trifft in China sehr oft Leute, die noch nie Deutschland besucht haben, dafür aber perfekt Deutsch sprechen. Was heißt das? Für die weitere Entwicklung Chinas wird es von großer Bedeutung sein, wie sich die aufstrebende chinesische Mittelschicht entwickelt. Stand jetzt haben wir bereits mehr chinesische Milliardäre als in den USA. Gleichzeitig haben wir aber auch die lückenlose Überwachung und ein perfides Social-Scoring-System, gegen das sich kaum jemand wehrt. Wird die Mittelschicht, die nun Wohlstand hat, irgendwann auch nach Freiheit rufen? Das wird die existentielle Frage für ein China des 21. Jahrhunderts. Jedenfalls haben wir Europäer uns sehr stark von chinesischen Waren abhängig gemacht – gerade im Bereich Pharmazeutik merken wir das jetzt. Ein Markt von 1,4 Milliarden Menschen macht sehr viel her – gerade österreichische Unternehmen verdienen dort sehr viel Geld. Ob die Corona-Krise in China selbst bereits vorbei ist, kann man so noch nicht einschätzen. Ohne Zweifel jedenfalls muss und wird China ein Wirtschafts- und Handelspartner sein. Auch wenn wir unsere demokratischen Werte stets hoch halten müssen – umsetzen können sie nur die Chinesen selbst. Wir müssen am Ende des Tages gestärkt aus der Krise herausgehen und deutlich kommunizieren: Die unklare Informationspolitik Chinas zeigt deutlich den Mangel an Transparenz. Eine Demokratie bewältigt eine solche Krise immer besser als ein autoritäres System.

TT: Letzte Frage: Bei aller Kritik an den USA und China – hat nicht Europa selbst auch präventive Maßnahmen gegenüber Corona größtenteils verschlafen?

HB: Ohne Zweifel. Das liegt aber auch an der Verfasstheit der Europäischen Union. Es mangelt an schlagkräftigen Kompetenzen, welche die EU benötigen würde, um z.B. einen europaweiten Standard von Datenschutz oder Persönlichkeitsrechten durchzusetzen oder um geschlossen gegenüber externen Bedrohungen aufzutreten. Zudem gibt es keine europäischen Medien: Nationale Politiker richten sich immer am Liebsten an ihre eigene Bevölkerung – und das tun sie über ihre eigenen Medien. Es funktioniert auch immer gut, wenn sie sagen: „Wir machen das besser, als alle anderen.“ Die Herausforderung wird sein, zu kommunizieren, dass es nicht um nationale Lösungen geht: Die Bekämpfung des Virus wird nicht national funktionieren. Wissenschaft funktioniert nicht national. Nationale Grenzen bringen wenig. USA, Russland und China sind gerade in großem Maße dabei, Europa zu spalten. Wir müssen endlich begreifen: Wenn wir uns einfach weiterhin darauf verlassen, dass wir im Weißen Haus einen Freund haben und uns auseinander dividieren lassen, werden wir früher oder später unseren Wohlstand und unsere Sicherheit verlieren. Deshalb: Ein Weckruf für Europa.


 

 

 

 

 

 

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