Ohne Zweifel: In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es strukturell verankerten Rassismus. Ja, manche gesellschaftliche Gruppen sind benachteiligt. Ja, in Bezug auf Rassismus gibt es noch zahlreiche Probleme zu meistern. Doch wer hat sie nicht? Diese Probleme. Europa, das bis heute massive Schwierigkeiten im Umgang mit anderen ethnischen Gruppen hat, sollte sich besonders mit dem Erheben des moralischen Zeigefingers zurückhalten.
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben innerhalb von zwei Jahrhunderten zivilisatorische Sprünge geschafft, die in der Geschichte beispiellos sind. Nur in den USA sind 200 Jahre ein Wimpernschlag in der Geschichte. Obgleich dieses Land über zwei Jahrhunderte hinweg Sklaven gehalten hat, wählte es zwei Jahrhunderte später den ersten schwarzen US-Präsidenten.
Welches Land auf diesem blauen Planeten kann eine derartige Entwicklung vorlegen? Keines. In Deutschland, in Österreich diskutieren wir bis heute ob Migranten, die seit 1970 bei uns leben, dazugehören oder nicht. Dass diese jemals zu Bundeskanzlern gewählt werden, darf maximal bezweifelt werden. Doch man sehe sich auch die anderen Felder in den USA an, wo Erfolg und Diversität eng miteinander verzahnt sind. Nirgendwo sonst leben mehr Ethnien und Religionen friedlich zusammen und arbeiten an der Perfektion ihrer Union. Immer noch liegen die wertvollsten und innovativsten Unternehmen in der USA. Immer noch zieht es die besten Köpfe aus der ganzen Welt in die USA. Immer noch liegen die besten Universitäten in den USA. Und immer noch handelt es sich hierbei um das mächtigste Land, das jemals in der Geschichte aus purer Willenskraft geschaffen wurde.
Und was ist mit Europa? Trotz der Proteste in den USA wirkt die Europäische Union sehr viel fragiler als der Zusammenschluss der fünfzig Bundesstaaten. Auch wenn es dieser Tage anders dargestellt wird: In den Vereinigten Staaten von Amerika droht – trotz aller fürchterlicher Entwicklungen – kein Zerfall der Union. In Europa hingegen sind die Briten bereits vom sinkenden Dampfer abgesprungen. Umfragen zufolge kann sich auch die Hälfte der Italiener einen Austritt vorstellen. Obwohl der Anteil der Migranten in Deutschlands oder Österreich weit geringer ist als in der USA, stellt sich die Frage, was in den deutschsprachigen Ländern los wäre, wenn wir diesen hohen Anteil an Turkoeuropäern, Afroeuropäern oder Jugoslawen hätten.
Erinnern wir uns doch mal an 2015 zurück. Die politischen Systeme Europas standen gefühlt in Flammen. Und das alleine, weil man 1 – 2 Millionen Menschen Schutz gewährte. Unser europäisches Wahlvolk hat keine Sekunde lang gezögert, Rechtsextremen die Tür zur Macht zu öffnen. Im Vergleich zur USA haben wir es bis heute nicht geschafft, ein gelungenes Rezept für das Zusammenleben von verschiedenen Ethnien und Religionen zu finden. Und bis heute ist es so, dass sich die Migranten im deutschsprachigen Raum kaum mit ihren neuen Heimaten identifizieren können, während sich in Amerika jeder Zuzügler sofort als Amerikaner fühlt. Die Amerikaner gewinnen immer noch den Verstand und das Herz eines Menschen. Und das ist es, was wir in Europa bis heute nicht gebacken bekommen.
Ganz gleich, ob mit, ohne, vor oder nach Trump. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden auch die kommenden Herausforderungen meistern, weil sie es bisher immer geschafft haben. Sie erfinden sich eben von Zeit zu Zeit neu. Wir können von den Amerikanern mehr lernen, als wir glauben. Denn wir sind ihnen zwar in der Wohlfahrt für den Einzelnen voraus, aber die ideale Mischung aus Diversität und Erfolg finden wir sehr viel mehr bei ihnen als bei uns.
Unseren Zeigefinger gegenüber unseren amerikanischen Brüdern und Schwestern erheben? Das sollten wir erst machen, wenn es ein Gastarbeiterkind zum Bundeskanzler geschafft hat.
Gastautor MUAMER BEĆIROVIĆ ist 1996 in München geboren, studiert Politikwissenschaften und Geschichte an der Universität Wien. Von 2016 bis 2019 Bezirksobmann der Jungen Volkspartei im 15. Gemeindebezirk Wiens. Herausgeber des Onlinemagazins „Kopf um Krone“. Als Publizist schreibt er über Außenpolitik, Diplomatie- und Wirtschaftsgeschichte. Am 05. Oktober veröffentlicht er gemeinsam mit dem früheren österreichischen Vizekanzler Erhard Busek ein Buch über Heimat und was man darin von den USA lernen kann. Zuletzt sprachen wir mit ihm über den Zusammenhang von Neutralität und Transatlantizismus.
Titelbild: Baltimore Protests. CC 2.0. Foto von Epi Ren.