Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd durch einen gewaltsamen Polizeieinsatz in Minneapolis am 25. Mai 2020 entflammte eine neue Protestwelle in den USA und weltweit. In der Filterblase meines sozialen Netzwerks hat sich die Diskussion in den letzten Tagen merklich verändert. Es werden Diskussionen geführt, wie und ob man zum Rassismus in den USA Stellung beziehen kann und muss. Unter meinen amerikanischen und deutschen Kontakten werden Solidaritätsbekundungen, Protest- und Spendenaufrufe und schwarze Bildschirme am #blackouttuesday geteilt. Zunächst erscheint alles wie das bekannte Muster: Nach einem Amoklauf in den USA, nach einem kontroversen Tweet von Präsident Trump oder nach dem gewaltsamen Tod eines/einer Afroamerikaners/Afroamerikanerin steht für ein paar Tage oder Wochen in den sozialen Netzwerken alles Kopf, Veränderungen werden gefordert und am Ende passiert? Richtig. Viel zu wenig.
Was man nicht begreifen kann, darüber muss man lesen
Als jemand, der sich seit Jahren mit den Vereinigten Staaten intensiv auseinandersetzt, könnte ich hier die geschichtlichen, politischen und strukturellen Hintergründe erklären, Expertenmeinungen und Statistiken zu Polizeigewalt, Rassismus und Kriminalität heranziehen. Ich kann jedoch nicht erklären, wie es ist aufgrund seiner Hautfarbe Diskriminierung zu erfahren. Meine (mehrheitlich weißen) amerikanischen Freunde können ebenfalls nicht für Afroamerikaner, Native Americans, Latinos, Asian Americans und andere Personengruppen sprechen.
Nach dem Tod von George Floyd teilen meine amerikanischen Kontakte auf Instagram und Facebook englischsprachige Buch-Empfehlungen wie z.B. How to be an Antiracist von Ibram X. Kendi. Innerhalb meiner Filterblase wird zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus und zu einem Perspektivwechsel aufgefordert. Eine meiner amerikanischen Kontakte teilte den Instagram-Status von @danielleprescod, einer der wenigen, der Romane anstatt Sachbücher empfiehlt. Natürlich, ein gutes Buch teilt man. Im Nachhinein redet man darüber. Packende Geschichten regen zum Nachdenken an und begleiten einen lange. Den Ansatz finde ich toll. Es wird sicher nicht direkt die Welt verändern, aber durch das Lesen von Romanen können wir mehr Bewusstsein für die Lebensrealität und den systemischen Rassismus, wie sie auch George Floyd erlebt haben muss, entwickeln. Bewusstseinsentwicklung ist der erste Schritt zur Veränderung.
Nach den ersten (Sach-)Buchempfehlungen habe ich mich gefragt, welche Romane ich selbst lesen kann, um mich in eine andere Perspektive hineinzuversetzen. Um eine nachhaltige Diskussion starten zu können, muss die Thematik auch außerhalb unserer eigenen, ohnehin USA-affinen Filterblase zugänglich gemacht werden. Mir ist es daher wichtig, die Bücher mit meiner deutschsprachigen Familie und Freunden zu teilen.
Die bei meiner Recherche entstandene Liste möchte ich allen zugänglich machen. Wenn euch einer der Romane anspricht, lest ihn. Gebt das Buch danach weiter oder verschenkt es bei der nächsten Gelegenheit. Schreibt eine kurze Nachricht dazu und sprecht dann mit eurer Familie und euren Freunden darüber.
Es soll keine fertige oder vollständige Liste sein, sondern nur ein Anfang – eine persönliche Anregung:
Adeyemi, Tomi: Children of Blood and Bone: Goldener Zorn (englischer Originaltitel: Children of Blood and Bone)
- Der erste Teil einer der meist gefeierten Fantasy-Trilogien in den letzten Jahren. Die junge amerikanische Autorin und Harvard-Absolventin mit nigerianischen Wurzeln hat sich von der westafrikanischen Mythologie und Kultur inspirieren lassen.
Adichie, Chimamanda Ngozi: Americanah (Americanah)
- Zugegebenermaßen das einzige Buch aus der Liste, das ich bereits gelesen habe und ausdrücklich empfehlen kann. Die Autorin beschreibt eingänglich alltägliche Situationen einer jungen Nigerianerin in den USA und Nigeria.
Butler, Octavia E.: Kindred – Verbunden (Kindred)
- Dana, eine junge schwarze Schriftstellerin erlebt als Protagonistin unerklärliche Zeitreisen. So verbindet die Autorin Vergangenheit und Gegenwart und reflektiert in dem bereits 1979 erschienen Werk über Rassismus, Sklaverei, Sexismus und gesellschaftliche Verantwortung.
Coates, Ta-Nehisi: Der Wassertänzer (The Water Dancer)
- Hiram ist Sklave, nicht anerkannter Sohn eines Plantagenbesitzers, und muss im Herrenhaus seinem weißen Halbbruder dienen. Als er sich in Sophia, eine Sklavin, verliebt, stellt er Kontakte zum Widerstand her und plant die gemeinsame Flucht.
- An dieser Stelle sei auch das mehrfach ausgezeichnete und weitläufig empfohlene Manifest von Ta-Nehisi Coates erwähnt: Zwischen mir und der Welt (Between the World and Me)
Jones, Tayari: In guten wie in schlechten Tagen (An American Marriage)
- Aus der Begründung der Jury für die Verleihung Women’s Prize for Fiction: »Ein außerordentlich persönliches Portrait einer Ehe, die an rassistischer Ungerechtigkeit zerbricht. Eine Geschichte von Liebe, Verlust, Treue und menschlicher Widerstandskraft vor dem sehr politischen Hintergrund der heutigen USA.«
Thomas, Angie: The hate you give (The hate you give)
- Die 16-jährige Starr erlebt wie ihr unbewaffneter bester Freund Khalil von einem Polizisten erschossen wird. Starrs Leben in dem verarmten Viertel, in dem sie wohnt, und in der Privatschule, an der sie fast die einzige Schwarze ist, wird auf den Kopf gestellt. Landesweit über Khalils Tod berichtet; viele gehen in seinem Namen auf die Straße.
Morrison, Toni: Menschenkind (Beloved)
- Sethe musste auf der Flucht aus der Sklaverei ihr Leben riskiern und ihr Kind begraben, verlor ihren Mann. Sie verlor dennoch nicht den Verstand, aber versucht die Vergangenheit auszulöschen. Eines Tages reißen alte Wunden auf, ein schmerzhafter Heilungsprozess beginnt.
Morrison, Toni: Sehr blaue Augen (The Bluest Eye)
- Ein kleines Mädchen, das nicht versteht, warum es nicht so blaue Augen hat wie die Puppen (die es nicht besitzt) oder wie die Kinder in der Schulfibel. Der Debütroman der Nobelpreisträgerin beschreibt, was es heißt, als Schwarze in einer schwarzweißen Welt aufzuwachsen.
Ward, Jesmyn: Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt (Sing, Unburied, Sing)
- Ein Familienporträt in einer von Armut und Rassismus geprägten Gesellschaft im amerikanischen Süden.
Woodson, Jacqueline: Ein anderes Brooklyn (Another Brooklyn)
- Die junge Anthropologin August kehrt für die Beerdigung ihres Vaters zurück nach New York, der Stadt ihrer Kindheit. Ein Buch über Freundschaft, Erinnerung und Aufwachsen in einem Brooklyn, das es so nicht mehr gibt.
Whitehead, Colson: Die Nickel Boys (The Nickel Boys)
- Dieses Buch beruht auf einer wahren Geschichte: Der sechzehnjährige Elwood wird ohne gerechtes Strafverfahren in die Besserungsanstalt Nickel Academy gesperrt und dort missbraucht, gepeinigt und ausgenutzt. Florida, Anfang der sechziger Jahre. – Ausgezeichnet mit dem Publitzer Preis 2020.
Whitehead, Colson: Underground Railroad (The Underground Railroad)
- Laut Verlag ist Colson Whiteheads Roman „eine virtuose Abrechnung damit, was es bedeutete und immer noch bedeutet, schwarz zu sein in Amerika.“ Das Buch schildert die Flucht der Sklavin Cora über das geheime Fluchtnetzwerk für Sklaven, Underground Railroad.
Falls ihr in eurem deutschen Bekannten-, Freundes- oder Familienkreis auf die Meinung stoßt, dass der Tod von George Floyd und die entbrannte Debatte um Rassismus hier in Deutschland keine Rolle spielen, an dieser Stelle auch erste, durchaus umstritten diskutierte Buchempfehlungen zum Thema Rassismus in Deutschland.
Amjahid, Mohamed: Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein (Sachbuch)
- Der Autor hält der deutschen (weißen) Mehrheitsgesellschaft pointiert und selbstironisch den Spiegel vor und zeigt, dass Rassismus viel mit Privilegien zu tun hat – gerade wenn man sich ihrer nicht bewusst ist.
Aydemir, Fatma; Yaghoobifarah, Hengameh u.v.m.: Eure Heimat ist unser Albtraum (Manifest, Essaysammlung)
- Vierzehn deutschsprachige Autor*innen berichten über ihr Leben als „Andere“ in Deutschland. Die Autor*innen nehmen Bezug auf aktuelle politische Begebenheiten in Deutschland, wie die Umbenennung des Innenministeriums in das „Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat“ 2018, die AfD und NSU-Mordprozesse.
Della, Nancy J.: Das Wort, das Bauchschmerzen macht (Kinderbuch)
- Der erste Band einer Reihe um die schwarzen deutschen Zwillinge Lukas und Lennard. Für Kinder und ihre Vorleser*innen.
Mayonga, David: Ein Neger darf nicht neben mir sitzen. Eine deutsche Geschichte (Sachbuch)
- Basierend auf persönlichen Erlebnissen schildert der bayrische Autor, Musiker und Produzent wie es ist aufgrund seiner Hautfarbe in Deutschland Angst und Vorverurteilung zu erfahren.
Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus (Sachbuch)
- Die Autorin hat sich 2018 entschieden, das Buch nach zehn Jahren erneut in aktualisierter und neuer Auflage herauszubringen. Wie Autorin auf ihrer Internetseite (oben verlinkt) sagt: „Deutschland Schwarz Weiß ist nach wie vor gefragt. Das ist schade, weil es bedeutet, dass schwarze deutsche Geschichte und Gegenwart sowie die Funktionsweisen von strukturellem Rassismus in Deutschland noch immer nicht zum Allgemeinwissen der Mehrheit gehören.“
Titelbild: Retha Ferguson. Pexels. CC 2.0.