Ein ganz normaler Tag in China

In dieser Kolumne diskutieren zwei junge Transatlantiker:innen über das jüngst erlassene Verbot der Kommunikationssoftware TikTok in den USA. Den Anfang macht Leon Billerbeck: Er zählt die Argumente für das Verbot auf. Fabian Barth erklärt in seiner Antwort, wieso das Verbot widersinnig ist.


6:30 Uhr am Freitagmorgen. Der letzte Tag der Woche beginnt wie die restlichen ebenfalls mit dem dröhnenden Kreischen des Digitalweckers. Handy in die Hand nehmen, etwas durch Duoying scrollen und den Freund*innen, die sich über Nacht bei WeChat gemeldet haben, antworten, dass man sich bereits auf die abendliche Verabredung im Restaurant freue. Schnell aufstehen, da die Zeit am Handy mal wieder viel zu schnell vergangen ist, Kaffee ansetzen, Zähne putzen und fertigmachen. Die Bahn wartet schließlich nicht. Der Kaffeeautomat schaltet sich von alleine aus. Die warme Brühe kommt in einen Thermobecher, wird mit etwas Milch versetzt, und anschließend geht es auf zur Metro in Richtung Innenstadt. Eine kurze Sprinteinheit muss es doch sein, zu sehr hat sich die ganze Vorbereitung und Trödelei am Morgen gezogen. Rote Ampel. Stehen bleiben – ganz sicher kein J-Walk. Ein schelmischer Blick nach oben rechts und ein Lächeln in die Kamera.

In zahlreichen chinesischen Großstädten sind die Kameras im Stadtbild mittlerweile Standard. Liberale und Bürgerrechtler*innen weltweit haben bereits bei der Einführung der CCTV-Technologie in beispielsweise Großbritannien stets vor einem Staat gewarnt, der sich die Daten seiner Bürger*innen unter den Nagel reißt und durch die Invasion der Privatsphäre soziale Folgen und Sanktionen walten lässt. Die Ängste manifestieren und bewahrheiten sich nun im chinesischen System der sozialen Gängelung, des sogenannten Social-Rankings.

Expert*innen der Volksrepublik taten die Geschehnisse und Entwicklungen in China auf der Internetkonferenz Republica, die jährlich in Berlin stattfindet, als Dramatisierungen und Panikmache ab. Haben diese doch keine unmittelbaren Folgen in direktem Zusammenhang mit schlechtem Verhalten, wie in zahlreichen Medien postuliert. Beispielsweise sei eine Wertung von Einzelhandlungen innerhalb des Privatlebens noch nicht in ein Punktesystem eingepflegt. Das Konsumieren eines Bieres zuviel am Abend in der Kneipe führe nicht zu Restriktionen, lediglich sei eine Verhaftung, eine Verurteilung oder ein sonstiges ordnungswidriges Vergehen Grundlage für eine anderweitige Einstufung innerhalb des Systems. Gewisse Güter könnten nur ab einem festgelegten Score konsumiert, Reisen nur ab einer gewissen Höhe im Punktestand gebucht werden. Ein meines Erachtens nach unglaublicher Eingriff in die Freiheit des Einzelnen – stets unter Mitwirkung chinesischer Technologien.

Der Bann

Der US-Amerikanische Präsident Donald Trump hat sich in einer Executive Order im August dazu entschlossen, Applikationen chinesischer Hersteller*innen vom amerikanischen Markt zu bannen. Hierunter fallen auch die aktuell sehr beliebten Apps wie TikTok und WeChat, ersteres das aktuell am stärksten wachsende soziale Medium weltweit, zweiteres eine fast ausschließlich in China genutzte Applikation, eine Alternative zu Telegram und Whatsapp – da jegliche westlichen Kommunikationsapps in China verboten sind. Hiermit steht Trump in Kontinuität zu dem bislang bereits sehr chinakritischen Kurs seiner Regierung und setzt ein klares Zeichen innerhalb der internationalen Politik. Den Schritt begründet er mit Bedenken zur nationalen Sicherheit, die durch das Sammeln von Daten durch die chinesischen Entwickler*innen und ihre Apps bedroht sei. Eine Debatte, die bereits öfter im medialen und gesellschaftlichen Diskurs aufkam, doch noch nicht mit der aktuellen Relevanz für den*die Endverbraucher*in diskutiert worden ist.

Trump folgt mit der Executive Order außerdem dem Vorbild Indiens, welches die App TikTok (neben über 60 anderen chinesischen Apps) sehr zum Leid der örtlichen Bevölkerung als eine Reaktion auf den Konflikt an der indisch-chinesischen Grenze ebenfalls verboten hat. Indien ist neben den USA bis zum Verbot der größte Markt für die App gewesen und hat neben den meisten Influencer*innen auf der Plattform außerdem diejenigen Videos bereitgestellt, die für die meiste Aufmerksamkeit, die meisten Views gesorgt haben. Wie im Westen haben zahlreiche Kleinunternehmer*innen sich mithilfe der App ein kleines oder größeres Auskommen erarbeiten und das Leben zahlreicher Menschen bereichern können. Darüber hinaus hatte die App in einer streng hierarchischen und restriktiven Gesellschaft wie Indien positive Effekte auf die soziale Durchmischung und den Durchbruch durch die starren Kasten, eine Möglichkeit der Kommunikation miteinander, die vorher nicht in diesem Maße gegeben war und der Abwägung von Normen zum Opfer fiel.

Die Motivation Modis für das Verbot war allerdings eine andere als die von Trump – die Reaktion dieselbe. Modi versuchte insbesondere den chinesischen Einfluss in der indischen Gesellschaft und die soziale Durchmischung, die damit einherging, zu verhindern. All dies ist Teil des nationalpopulistischen Programmes von ihm und seiner BJP (was oftmals vergessen wird: die größte rechtspopulistische Partei der Welt), die seit Beginn ihrer Regentschaft vertreten wird. Die USA haben besagte Probleme nicht. Zumindest rechtlich ist die Gesellschaft egalitär, auch wenn die faktische soziale Diversität und das Versprechen der Meritokratie, insbesondere innerhalb der Institutionen, sicherlich zumindest diskussionswürdig ist. Trump verbindet mit dem Verbot sicherlich auch wirtschaftliche Interessen der Vereinigten Staaten, nicht zu vernachlässigen sind jedoch auch die außenwirtschaftspolitischen und nationalen Sicherheitsinteressen, die mit dem Verbot durchgesetzt werden.

Das chinesische Recht

Aktuell sind deutsche Medien und die Zivilgesellschaft schnell dabei, verkürzte antiamerikanische Kritik zu üben und den Präsidenten der USA als Autokraten zu verurteilen, der nunmehr in die Meinungsfreiheit und die Liberalität seines Landes eingreifen würde. Dabei haben wir eine ähnliche Debatte auch in Europa geführt, in welcher die Reflexe nach Offenlegung der chinesischen Rechtslage in selbige Richtung gingen. Ich spreche von der Debatte um den Ausbau der 5G-Infrastruktur.

Konkret wurde die Debatte darüber geführt, ob europäische Staaten und demnach auch Deutschland beim Ausbau der kritischen Infrastruktur rund um die neue Bandbreitenfrequenz 5G auf chinesische Anbieter*innen, genauer auf Huawei als chinesische Firma, zurückgreifen sollten. Oftmals wurde gesagt, dass kein Unternehmen technisch so entwickelt sei wie der chinesische Anbieter und die Teile bei niemandem sonst zu einem vergleichbaren Preis angeboten wurden. Klare Sache, oder? Ein großer Haken wurde allerdings im Laufe der Debatte stets aufgezeigt: die Rechtslage in China. Chinesische Unternehmen und damit auch Huawei sowie im aktuellen Fall WeChat und TikTok sind nach chinesischer Verfassung durch die Tatsache ihres Hauptsitzes in der Volksrepublik dazu verpflichtet, auf Anfrage der Kommunistischen Partei Chinas die vorhandenen, gesammelten Daten und Informationen über ihre Endverbraucher*innen preiszugeben. Wie diese Rechtsnorm ausgelegt wird, ob, wie von den Unternehmen beteuert, lasch oder aber doch aktiv, ist nicht sicher. Dieser Faktor stellt trotzdem eine große Ungewissheit, wenn nicht sogar eine große Bedrohung dar. TikTok und WeChat hätten, beziehungsweise haben mit Sicherheit nicht die Bedeutung für die nationale Sicherheitsinfrastruktur wie beispielsweise Huawei im Ausbau der kritischen 5G-Netzwerke, die Sicherheit der Daten amerikanischer Bürger*innen steht allerdings dennoch auf dem Spiel. Besonders wenn man sich vor Augen führt, auf welchem gesellschaftspolitischen Weg sich die VR China aktuell befindet.

Die Außenwirtschaft

Außenwirtschaftspolitik ist ein großes Politikfeld, welches interdisziplinär wirkt. Es stellt die Schnittstelle dar zwischen den konventionellen und teilweise unkonventionellen Normen der Außenpolitik und einer aktiven Wirtschaftspolitik, welche sich durch die zunehmende Globalisierung weiter entwickelt und damit an Stellenwert hinzugewinnt. Unsere Welt ist immer vernetzter, und frei nach dem Motto „Wandel durch Annäherung“ von Willy Brandt kann durch eine aktive Außenwirtschaftspolitik versucht werden, auf innenpolitische Phänomene anderer Länder einzuwirken.

Um die Analogie nach Europa erneut herzustellen, möchte ich Nordstream 2 ins Spiel bringen. Wir diskutieren die Gaspipeline ebenfalls aus einer außenwirtschaftspolitischen Perspektive, wie schon den Ausbau von 5G. Ich denke, dass wir auch TikTok und WeChat aus dieser Perspektive betrachten müssten. Die Argumente gegen Huawei wurden bereits geliefert. Nordstream 2 kann und muss besonders dahingehend diskutiert werden, dass der Einfluss, den Russland dadurch auf seine Nachbar*innen ausübt, negative Konsequenzen haben wird und sich die Europäische Union und besonders Deutschland hierdurch vom Regime Putin abhängig macht. Was ebenfalls betrachtet werden sollte, ist die Verfasstheit von Russland und China, die einen gemeinsamen Block des Autoritären bilden. Der Westen, konkreter die Vereinigten Staaten, die EU und all diejenigen Staaten, die sich einer wertebasierten und regelgeleiteten, multilateralen Weltordnung verschrieben haben, sind dazu angehalten, den Konflikt als einen solchen, also als einen über die Vorherrschaft zwischen Autoritarität und Demokratie, anzusehen.

Das Fazit

TikTok und WeChat sind nicht nur Applikationen für das Smartphone, sondern wie der Ausbau von 5G und Nordstream 2 ebenfalls politische Projekte und Einfallstore eines regressiven Weltbildes in eine freiheitliche und wissenschaftsbasierte Weltordnung. Damit einher gehen Fragen, die eine grundlegende Ausrichtung der Außenpolitik nach sich ziehen und weitgehende Herausforderungen und Handlungsnotwendigkeiten mit sich bringen werden. Das Verbot kann demnach nicht als rein innenpolitische Entscheidung diskutiert werden, sondern muss in oben beschriebene Dimension der internationalen Politik eingeordnet werden.

Die Kameras in Chinas Straßen, das Social-Ranking und die Allmacht des Einparteienstaates sind der Anfang, der Gipfel des Eisbergs sind die sogenannten Umerziehungslager für Uigur*innen in einigen chinesischen Provinzen. China ist von seinem eigenen Gesellschaftsbild überzeugt und ergreift jeden Strohhalm, dieses in die Welt zu tragen. Ob über die neue Seidenstraße oder die oben aufgeführten Projekte.

Die akademische Intelligenz ist sich einig: Die nächste außenpolitische Herausforderung, die den Westen entweder einen oder spalten könnte, ist der Aufstieg Chinas zu einer globalen Macht und damit der Export des chinesischen Welt- und Gesellschaftsbildes. Der Zug ist bereits im Bahnhof eingefahren, an uns liegt es nun, ihn zu stoppen und die liberale Gesellschaft zu verteidigen, oder aber zuzusehen und vielleicht unsere gewonnenen Freiheiten zu verlieren. Das Ende ist offen, das Dogma, dass Kapitalismus und liberale Gesellschaften zusammengehören würden, gehört der Vergangenheit an. Und so schwer es insbesondere mir fällt, eine Entscheidung des Kabinetts Trump zu verteidigen, bin ich doch der Überzeugung, dass er mit dieser Executive Order Recht behalten wird.


Titelbild: Pixabay. CC 2.0.

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