Knappe Kiste? Mitnichten.

Vor einem Monat, am 14. Dezember 2020, hat das Electoral College getagt. Das heißt: Über das ganze Land verteilt haben sich kleinere wie größere Delegiertengruppen in hübsch vertäfelte Sitzungssälen eingeschlossen und mit einigem Pathos in Form gegossen, was schon in den frühen Morgenstunden der US-Wahlnacht recht offensichtlich war: Joe Biden wird Präsident. Für Noch-Amtsinhaber Donald Trump bleiben die Optionen freiwillige Schlüsselübergabe oder gewaltsame Entfernung aus dem Oval Office. An diesem eigentlich recht simplen Sachverhalt haben auch die beklagenswerten Klageversuche von Trumps kläglich zusammengeschmolzener Anwaltsschar (inklusive sichtlich angeschickerter Kronzeugin) nichts zu ändern vermocht. Ihr Lohn: Lacher im Bezirksgericht. Lacher im Bundesgericht. Verhaltenes Gelächter in den heiligen Hallen des Supreme Courts. Abgelehnt – Abgelehnt – Abgelehnt – und tschüss! 

Die Politclownerie des Wannabe-Dealmakers mit dem ungesund wirkenden Orangenteint neigt sich also ihrem unvermeidlichen Ende entgegen, letzte Skandalenthüllungen (wie die Forderung Trumps gegenüber Georgias Secretary of State Brad Raffensberger „to find 11,870 votes“) und nicht weniger skandalöse Torschluss-Begnadigungen für die verurteilten Getreuen inklusive. Das heißt aber auch, dass die Zeit der Sofortretrospektiven anbricht. Darüber, dass Trumps Präsidentschaft inhaltlich ein einziger nicht enden wollender Witz im Sinne einer Aristophanes-Komödie war dürfte zwar weitgehender Konsens bestehen. Bezüglich einer anderen Frage herrscht dagegen weitaus weniger Klarheit: War seine Niederlage nun knapp – sind wir also dem drohenden US-Faschismus gerade noch so von der Schippe gesprungen – oder war sie es nicht?

Ich behaupte, dass sie es nicht war und dass wir tunlichst vermeiden sollten, nachträgliche Legendenbildung über etwas zu betrieben, das am Ende des Tages ein ziemlich solider Biden-Sieg als Schlussakt einer ziemlich soliden und Monate währenden Biden-Führung war. Das ist zwar in einem Land wie Deutschland, das sich gerne und mit Genuss in ostentativer Bedenkenträgerei ergeht (und dafür sind ausländische Wahlen genauso gut wie der Veggie-Day oder der Corona-Impfstoff) kein allzu populärer Ereigniszugang. Aber gehen wir die Punkte einzeln durch.

First things first. Zunächst einmal ist es ein ausgesprochen seltenes Ereignis, dass ein amtierender Präsident nach nur vier Jahren bereits die Segel streichen muss. In den letzten einhundert Jahren hat vor Trump nur drei Commander in Chief dieses unschöne Wahlschicksal ereilt. Der erste war Herbert Hoover (1936), der die USA ungelenk in die Great Depression manövriert hatte und dafür vom Wahlvolk die Quittung erhielt. Der zweite war Jimmy Carter (1980), dem die von Pleiten, Pech und Pannen begleitete Geiselnahme von Teheran das Genick brach. Und der dritte war George H. W. Bush (1992), dessen Wahlkampf durch das Aufkommen des Milliardärs und Budgethardliners Ross Perot folgenschwer beeinträchtigt wurde. In diese illustre Runde darf sich jetzt auch Trump gesellen, wobei der als Alleinstellungsmerkmal auch noch zweimal das popular vote verloren hat und darüber hinaus vom Repräsentantenhaus impeached worden ist. Man freut sich beinahe ein wenig für Andrew Johnson und James Buchanan, die Trump wohl demnächst in Fachkreisen als schlechtester US-Präsident der Geschichte ablösen wird (so er es nicht schon getan hat). Nicht zuletzt auch aufgrund seines demokratiezersetzenden Nachwahlverhaltens.

Dazu kommt der Umstand, dass weder popular vote noch Stimmenverteilung im electoral college rein numerisch das Attribut knapp verdienen. Den Mehrheitskampf hat Biden mit mehr als sieben Millionen Stimmen Unterschied gewonnen (zwei Millionen mehr als Barack Obama seinerzeit gegen Mitt Romney), wobei seine über 81 Millionen Stimmen einen präsidialen Allzeitrekord darstellen. Die Wahlmänner votierten dagegen mit 306-232 für den ehemaligen Vizepräsidenten, ein Ergebnis, das (wenn auch mit anderer Staatenkonstellation) exakt* den Wahlausgang von 2016 spiegelt, der ja vom Trump-Lager wiederholt als monumentaler Erdrutschsieg gefeiert wurde. Und was soll man erst dazu sagen, dass die Demokraten mit Arizona und Georgia zwei ehedem rubinrote (und rasant wachsende) Staaten im erzrepublikanischen Sun Belt für sich entscheiden konnten – im Falle Arizonas erst das zweite Mal seit 1948 (das andere Mal war während Bill Clintons Wiederwahl 1996). Womöglich mit weitreichenden Folgen für das US-Machtgefüge.

Aber war denn der Wahlausgang nicht zumindest wesentlich knapper als es die Umfragen prognostitziert hatten? Auch das stimmt nur zum Teil. Wie schon 2016 waren auch dieses Jahr die election polls besser als es zunächst den Anschein haben mag, insbesondere wenn man auf die Mittelwerte schaut und sich nicht zu sehr von einzelnen Ausreißern (Quinnipiacs Biden +8 in Ohio und +13 in Florida ebenso wie Landmark Communications‘ Trump +7 in Georgia) irritieren lässt. Wenn man zusätzlich noch berücksichtigt, dass politische Prognostik weder eine exakte Wissenschaft ist noch einen ebensolchen Anspruch hat, sondern schlicht auf Grundlage aggregierter Daten einen gewissen Ereignisspielraum abbilden möchte (margin of error anyone?), entfällt die Grundlage der meisten Kritikpunkte vollends. Zumal zu bedenken ist, dass diese Wahl unter historisch einmaligen Ausnahmebedingungen (Pandemie, extreme Briefwahlzunahme, höchste Wahlbeteiligung seit 1900) durchgeführt wurde, eine gewisse Volatilität also von Anfang an in alle Vorhersagen eingepreist war.

Natürlich gab es einige Wermutstropfen für die Demokraten, die auch gar nicht bestritten werden sollen. Diverse Kongressrennen verliefen enttäuschend; so konnten Susan Collins und Thom Tillis doch noch einmal ihre Köpfe aus jeweils schon fest gebunden geglaubten Schlingen ziehen und auch die Niederlagen von Donna Shalala (FL-27), Kendra Horn (OK-5), Ben McAdams (UT-4) oder Abby Finkenauer (IA-1) schmerzen. Dazu kommen recht beunruhigende Ergebnisse unter diversen demografischen Untergruppen (namentlich den Tejanos entlang der US-mexikanischen Grenze). Aber all diese Punkte ändern weder etwas daran, dass aus einer republikanischen Trifecta, also der gleichzeitigen Kontrolle von Repräsentantenhaus, Senat und Präsidentschaft, innerhalb von nur vier Jahren eine demokratische geworden ist (Dank an Raphael Warnock und Jon Ossoff!) noch macht es den Wahlausgang in irgendeiner Form knapper oder überraschender. Im Gegenteil: Wenn dies ein Fußballspiel gewesen wäre, dann wäre Team Biden bis kurz vor Abpfiff mit 3-0 in Führung gelegen. Team Trump hätte allenfalls in der Nachspielzeit noch den Anschlusstreffer erzielt, sich ansonsten aber auf Rudelbildung und Blutgrätschen ins Nirgendwo verlegt. Too little, too late. Dass wir es dennoch mit einem „Wahlkrimi“ zu tun hatten und der Sieger erst nach Tagen feststand ist lediglich Folge der skizzierten Wahlumstände, nicht aber Indikator für ein besonders knappes Endresultat. „We feel good about where we are“ hatte Biden noch in der Wahlnacht verlautbaren lassen. Ich wäre nicht überrascht, wenn er innerlich bereits über die passenden Farb- und Holztöne für sein OvalOffice-Dekor nachgedacht hätte.

To cut a long story short: Es ist exakt das eingetreten, was schon seit dem Frühsommer offensichtlich war: Biden schlägt Trump und das in einer Art und Weise, die man nur als abgeklärt bezeichnen kann. Die Tatsache, dass es den USA damit gelungen ist, die nötigen demokratischen Abwehrkräfte zu mobilisieren, um aus ihrem großen nationalen Albtraum aufzuwachen, sollte uns vorsichtig optimistisch stimmen. Natürlich wartet auf die künftige Biden-Administration ein ganzer Stoß Arbeit. Die von Trumps Alleingängen entnervten europäischen Partner müssen besänftigt, die schlimmsten Exekutivanweisungen der Vorgängerregierung rückabgewickelt, der Kampf gegen COVID-19 und den Klimawandel repriorisiert und der ebenso hirnlose wie testosteronschwangere antichinesische Konfrontationskurs beizeiten revidiert werden. Aber da jetzt wieder Profis ins Weiße Haus einziehen wird das schon werden. So, Mr. President-elect, roll up your sleeves and get ready to drain this swamp.

*2016 gab es eine Reihe von sogenannten faithless electors, also Wahlmännern und -frauen, die entgegen ihrer Zusage ihre Stimme für Drittkandidat*innen abgegeben hatten. Damit gingen Donald Trump zwei und Hillary Clinton fünf Stimmen verloren; das Endergebnis war 304-227.

Nachtrag: Dieser Beitrag ist kurz vor der Kapitol-Erstürmung (Trump-Hawley-Coup? MAGA Insurrection? Beer Belly Putsch?) vom 6. Januar 2021 verfasst worden. Zu besagtem Vorgang ist bereits viel geschrieben worden und wird auch noch viel geschrieben werden. Da er aber weder Inhalt noch Diktion dieses Beitrags näher berührt, hier nur ein kurzes Update zur Einordnung Trumps als schlechtester US-Präsident der Geschichte: Lean Trump –> Safe Trump. Called it!


Titelbild: Suzy Brooks. Unsplash. CC 4.0.

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